AKW in Reserve: Viel Risiko, wenig Nutzen
Die AKW Neckarwestheim2 und Isar2 sollen bis April 2023 in Notreserve gehen. Risiko und Aufwand stehen in keinem Verhältnis zum geringen Nutzen.
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Am Montag hat Robert Habeck gemeinsam mit den Chefs der deutschen Übertragungsnetzbetreiber die Ergebnisse des „zweiten Stresstests“ für die Stromversorgung im Winter 2022/2023 vorgestellt. Darin haben die Netzbetreiber verschiedene Szenarien für Energieknappheit sowie Maßnahmen zur Stabilisierung der Netze vorgestellt. Die Schlussfolgerung für den Wirtschaftsminister: Die beiden süddeutschen Atomkraftwerke (AKW) Neckarwestheim 2 und Isar 2 sollen Ende 2022 wie geplant abgeschaltet werden, jedoch bis April 2023 in Reserve gehen. Sollte der Atomstrom dann tatsächlich notwendig für die Versorgungssicherheit sein, könnten sie mit rund einer Woche Vorlauf hochgefahren werden.
Was bringt eine Weiternutzung der Atomkraft?
Die Netzbetreiber stellten drei Szenarien mit zunehmender Verschärfung von möglichen Versorgungsengpässen vor. Dabei wurden Faktoren aus In- und Ausland berücksichtigt, wie etwa der aktuelle Ausfall rund der Hälfte der französischen Atomkraftwerke. Das mittlere Szenario (++) der Netzbetreiber ergab, dass ein Streckbetrieb der Atomkraftwerke im Inland 0,9 Terawatt (TW) und im europäischen Ausland 1,5 Terawatt Strom aus Gaskraftwerken ersetzen können. Damit würden nur ein Promille des deutschen Gasverbrauchs von jährlich rund 998 Terawattstunden (TWh) Erdgas eingespart werden. Auf diesen geringen Nutzen will das Wirtschaftsministerium weitestgehend verzichten, indem die AKW lediglich in eine Notreserve gehen.
Die Netzbetreiber analysierten auch, in welchem Maße sie mit einem sogenannten „Redispatch“ zur Netzstabilisierung in den Strommarkt eingreifen müssen, indem sie Kraftwerke anweisen die Produktion zu drosseln oder erhöhen. Im selben Szenario (++) sinkt das Redispatch-Potenzial im Ausland durch den Streckbetrieb der Kernkraftwerke von 5,1 Gigawatt (GW) um 0,5 GW auf 4,6 GW. Sollten Netzengpässe absehbar sein, könnten die Atomkraftwerke hier also geringfügig entlasten. Restliche Netzengpässe müssten im Ernstfall ohnehin über andere Mittel, wie Einsparungen oder der zeitlichen Verschiebung von Lasten behoben werden. Weit hinten in der Liste der Maßnahmen zur Verhinderung von Stromausfällen sehen die Netzbetreiber das vorübergehende (unfreiwillige) Abschalten von Großverbrauchern.
Was sind die Risiken der Weiternutzung der Atomkraft?
Der Betrieb der Atomwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2 ist bereits jetzt mit unkalkulierbaren Risiken verbunden ist. Die überalterten Reaktoren waren über Jahrzehnte Neutronenbeschuss, großer Hitze und hohem Druck ausgesetzt. Nach mehr als 30 Jahren Betrieb ist mit Materialermüdung, Verschleiß, Korrosion und Spannungsrissen zu rechnen. Die letzte Sicherheitsüberprüfung der Reaktoren gab es im Jahr 2009 und sie wurde nach einem veralteten Stand von Wissenschaft und Technik durchgeführt. Bei einem weiteren Betrieb steigt das Risiko durch unentdeckte Schäden von Tag zu Tag. Keines der Atomkraftwerke hält zudem einem gezielten Anschlag oder dem Absturz eines großen Verkehrsflugzeugs stand. Aus diesen Sicherheitsgründen müssten diese Atomkraftwerke eigentlich schon heute abgeschaltet werden.
Ist die AKW-Notreserve sinnvoll?
Das Wirtschaftsministerium hat mit der Einführung einer AKW-Leistungsreserve eine Abwägung getroffen: Nur wenn die AKW wirklich für die Netzstabilität gebraucht werden, sollen die Sicherheitsrisiken der AKW Isar2 und Neckarwestheim 2 in Kauf genommen werden. Dies mag nach einer klugen politischen Abwägung klingen. Immerhin ist einer Laufzeitverlängerung mit Beschaffung neuer Brennelemente eine klare Absage erteilt worden. Neben den Sicherheitsdefiziten ist jedoch der juristische, finanzielle und politische Aufwand für eine AKW-Notreserve enorm. Diese Ressourcen sollten besser in Energiesparmaßnahmen, den Ausbau der erneuerbaren Energien und die sozial gerechte Ausgestaltung der Energiekrise fließen. Zudem bleibt mit der Frage, wann genau die AKW denn nun wirklich gebraucht werden, die Atomdebatte unnötig länger offen. Es ist offensichtlich, dass die Spitzen von CDU/CSU und FDP mit dem Hochjubeln der Atomkraft als Lösung vom eigenen energiepolitischen Versagen ablenken wollen. Für ein Ende dieser Scheindebatte um Atomkraft in Deutschland hätten wir uns eine rote Linie gewünscht: keinen Tag länger Atomkraft. So bleibt also lediglich zu hoffen, dass Merz, Söder, Lindner und Co. endlich ihre Blockadehaltung aufgeben. Denn gerade jetzt müssen wir die Energiewende und den Ausbau der erneuerbaren Energien mit aller Kraft voranbringen, und zwar „auch im Süden der Republik“, so Habeck am Montag.
Anti-Atom-Aktion in Bayern
Der Bayerische Ministerpräsident Markus Söder hat die Debatte um AKW-Laufzeitverlängerungen maßgeblich mit angeheizt. Mitunter, weil er mit der 10H-Windkraftblockade dafür gesorgt hat, dass wenige Alternativen zur Verbrennung von Erdgas bereit stehen. Kurz vor den Ergebnissen des Stresstests haben wir unsere Sicherheitsbedenken mit einer Aktion auf dem Gillamoos Volksfest klar gemacht. Mit einem Anti-Atom-Empfang begrüßten wir die Politprominenz, darunter SPD-Generalsekretär Kühnert, CSU-Chef Söder, Anton Hofreiter (Grüne) und Hubert Aiwanger (Freie Wähler). Kühnert äußerte auf journalistische Anfrage hin, dass es mit der SPD keine Laufzeitverlängerung geben werde. Von einer Notreserve war am Morgen noch keine Rede.