Wegen Pestizidkritik auf der Anklagebank
Weil wir den hohen Pestizideinsatz in den Südtiroler Apfelplantagen öffentlich kritisiert haben, wurden wir in Italien vor Gericht gezerrt. Doch am Ende eines langen Verfahrens siegte die Meinungsfreiheit.
Der Südtiroler Pestizidprozess
Dass Südtirol ein Pestizidproblem hat, wollte die dortige Obstlobby unter den Teppich kehren und schreckte nicht einmal vor Einschüchterungsklagen gegen ihre Kritiker:innen zurück. Wir aber ließen uns nicht zum Schweigen bringen und wehrten uns gegen den Angriff auf die Meinungs- und Informationsfreiheit.
Südtirol ist eine der wichtigsten Obstanbau-Regionen in Europa: Auf über 18.000 Hektar Anbaufläche wachsen dort rund zehn Prozent der Äpfel Europas. Diese Massenproduktion ist nur mittels eines hohen Pestizideinsatzes möglich, unter dem nicht nur die Artenvielfalt, sondern auch die Gesundheit der Menschen vor Ort leidet.
Der Südtiroler Weg: Kritiker:innen verklagen
Auf unsere Kampagne reagierte der Südtiroler Landesrat für Landwirtschaft Arnold Schuler nicht etwa, indem er mit uns den konstruktiven Dialog über die Pestizideinsätze suchte, sondern mit Strafanzeigen gegen sechs Vorstandsmitglieder des Umweltinstituts sowie gegen unseren damaligen Referenten für Agrar- und Handelspolitik Karl Bär (der derzeit zur Wahrnehmung seines Bundestagsmandats für Bündnis 90/Die Grünen von seiner Arbeit im Umweltinstitut freigestellt ist).
Unser angebliches Verbrechen bestand aus Sicht des Landesrats in „übler Nachrede zum Schaden der Südtiroler Landwirtschaft“. Außerdem warf er uns Markenfälschung vor – aufgrund der satirischen Verfremdung der Südtiroler Dachmarke zum „Pestizidtirol“-Logo. Über die Südtiroler Obstgenossenschaften, die für die Vermarktung der Äpfel zuständig sind, brachte Arnold Schuler zudem 1375 Landwirt:innen dazu, sich seiner Anzeige anzuschließen.
Nicht nur das Umweltinstitut wurde vor Gericht gezerrt, sondern auch der österreichische Autor Alexander Schiebel und sein Verleger Jacob Radloff vom Nachhaltigkeitsverlag oekom. Denn Arnold Schuler und der Obstlobby waren Passagen aus Alexander Schiebels Buch „Das Wunder von Mals“ ein Dorn im Auge, in denen der Autor den Pestizideinsatz in Südtirol kritisiert.
Pestizide sind in Südtirol also offenbar nicht nur Gift für die Natur und die menschliche Gesundheit, sondern auch für die Meinungsfreiheit. Das Vorgehen, Menschen, die ihren Einsatz kritisieren, zu verklagen, hatte sich außerdem in der Vergangenheit bereits bewährt: Zuvor hatte man bereits die lokalen Anti-Pestizid-Aktivist:innen aus Mals im Vinschgau verklagt, nachdem sich der Ort im Jahr 2014 per Bürgerreferendum zur ersten pestizidfreien Gemeinde Europas erklärt hatte.
Der Pestizidprozess: Ein Kartenhaus fällt in sich zusammen
In der Folge liefen die Pestizidprozesse nach und nach ins Leere: Bereits einen Monat nach Prozessauftakt wurden die Verfahren gegen die Vorstandsmitglieder des Umweltinstituts sowie gegen den Geschäftsführer des oekom-Verlags eingestellt. Außerdem zogen Arnold Schuler und die zwei Vertreter der Obstgenossenschaften im Mai 2021 schließlich ihre Nebenklägerschaft zurück. Im selben Monat kam es noch vor der Eröffnung des Hauptverfahrens zum Freispruch von Alexander Schiebel. Der Richter begründete sein Urteil damit, dass der Tatbestand der üblen Nachrede in den beanstandeten Passagen im „Wunder von Mals“ nicht vorlag.
Indes mussten Arnold Schuler und die Südtiroler Obstwirtschaft erkennen, dass die von ihnen angezettelten Klagen nicht den erwünschten Effekt erzielen würden – unsere Kritik am Pestizideinsatz im Südtiroler Apfeleinsatz zu unterdrücken –, sondern das Gegenteil erreicht hatten. Die Einschüchterungsklagen erwiesen sich als Bumerang: Durch ihre SLAPPs hatten die Kläger:innen dafür gesorgt, dass immer mehr Menschen in Deutschland, Italien und ganz Europa von Südtirols Pestizidproblem erfuhren.
Daher wollten Arnold Schuler und die Südtiroler Obstwirtschaft den Pestizidprozess, den sie angezettelt hatten, unbedingt wieder loswerden, doch er hatte sich ihrer Kontrolle entzogen: Denn nicht alle 1376 Personen, die Anzeige erstattet hatten, zogen ihre Strafanträge im Juli 2021 zurück. Zwei der Landwirte, die man überredet hatte, ihre Unterschrift unter die Anzeigen zu setzen, weigerten sich inzwischen, ihre Strafanträge wieder zurückzuziehen. Die Büchse der Pandora ließ sich nicht ohne Weiteres wieder schließen und somit wurde das Verfahren unverändert fortgesetzt.
Freispruch für das Umweltinstitut
Erst am 28. Januar 2022 zog der letzte verbliebene Landwirt schließlich seine Anzeige zurück. Damit war fast anderthalb Jahre nach dem Prozessauftakt der Vorwurf der üblen Nachrede gegen das Umweltinstitut endlich vom Tisch. Den Vorwurf der Markenfälschung verfolgte die Staatsanwaltschaft als Offizialdelikt allerdings auch ohne Kläger:innen weiter. Dieses Verfahren endete erst im Mai 2022 mit einem Freispruch für Karl Bär.
Auch nach dem Ende des SLAPPs gegen das Umweltinstitut kämpfen wir weiter gegen Einschüchterungsklagen. Wir setzen uns dafür ein, dass die Bundesregierung ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag einlöst, EU-weit Maßnahmen gegen SLAPPs zu unterstützen und darüber hinaus auch in Deutschland gegen Einschüchterungsklagen vorgeht. Um die Politik von der Notwendigkeit zu handeln zu überzeugen, haben wir gemeinsam mit der Gesellschaft für Freiheitsrechte und der Journalist:innen-Union in ver.di eine Studie in Auftrag gegeben, die das Ausmaß der SLAPP-Problematik in Deutschland untersuchen soll.
Die Südtiroler Betriebshefte
Nach fünf Jahren konnten wir den Südtiroler SLAPP also endlich zu den Akten legen. Doch das Kapitel „Südtirol“ hat das Umweltinstitut noch nicht endgültig geschlossen. Im Anschluss arbeiteten wir mit Hochdruck an der Auswertung der im Prozess sichergestellten Aufzeichnungen über Pestizideinsätze. Denn solche Dokumente werden – obwohl sie EU-weit verpflichtend sind – bisher nicht systematisch ausgewertet
oder veröffentlicht. Indem wir die Aufzeichnungen von hunderten Südtiroler Obstbaubetrieben gründlich analysierten und unsere Erkenntnisse mit der Öffentlichkeit teilten, wollten wir einen Beitrag dazu leisten, diesen blinden Fleck aufzuhellen. Die Ergebnisse unserer Auswertung finden Sie hier.
Somit hat der Justizmissbrauch der Südtiroler Landesregierung und der Obstlobby letztlich zumindest eine gute Seite gehabt: Mehr Transparenz über den Einsatz giftiger Substanzen in einer der wichtigsten Apfelanbauregionen Europas.
Alle Informationen zu unserer Auswertung, den Bericht zum Download sowie eine Zusammenfassung der Ergebnisse und Forderungen finden Sie hier:
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